Momente des Aufruhrs
Die Tech-Branche scheint weiterhin zu gedeihen. Einige versuchen in der Krise, ihren Einfluss auszuweiten. Dabei vernachlässigt werden diejenigen, die diese Arbeit leisten sollen. In der populären Vorstellung sind es gut bezahlte Software-Entwickler*innen. Es gibt nun aber auch eine langsame Anerkennung für die ausgelagerten sogenannten Hilfskräfte und ihre Arbeitskämpfe. Die kalifornische Ideologie, deren Erzählung meist emanzipatorisch klingende Konzepte übernahm, zeigt langsam erste Zerfallserscheinungen.
Die Start-up- oder Tech-Branche ist nie besonders gut organisiert gewesen. Etwas anders sieht es für die vielen, oftmals unter prekären Bedingungen arbeitenden Gig-Worker aus, die ihre Arbeitskraft auf den von der Branche entwickelten Plattformen anbieten. Viele arbeiten als Selbständige und tragen Sozial-und Krankenversicherung selbst.
Das wäre kein Problem, böten Unternehmen Unterstützung oder einen guten Lohn. Stattdessen kriegen sie Applaus. In Werbekampagnen feiern die Unternehmen ihre prekär Beschäftigten. Beispiele sind die glücklichen Putzkräfte von Helpling oder die berührenden Lebensgeschichten von Uber-Fahrer*innen. Dabei kam es in den letzten Jahren auch zu medienwirksamen Arbeitskämpfen. Lieferant*innen des Essenslieferdienstes Deliveroo etwa hatten sich in Deutschland organisiert, bis das Unternehmen ohne Vorwarnung vom deutschen Markt abzog.
In der Corona-Krise gab es Beschwerden darüber, dass Unternehmen kaum in Sicherheitsausrüstung investierten. Das verdeutlicht unter anderem der Fall Chris Smalls aus den USA. Der Amazon-Lagerarbeiter hatte zum Protest gegen die mangelhaften Sicherheitsmaßnahmen im Rahmen der Corona-Krise aufgerufen. Das Unternehmen feuerte ihn und danach auch andere Mitarbeiter*innen, die Smalls‘ Anliegen unterstützen.
Auch in Deutschland sind Fälle von Corona-Infektionen in Amazon-Standorten bekannt geworden. Der Reporter Sebastian Friedrich recherchierte für die Sendung STRG_F, wie Amazon-Lagerstätten in Deutschland zum »Corona-Hotspot« geworden sind. Vor allem bemängeln Mitarbeiter*innen die Informationspolitik der Chefetagen. Diesen Fall sehen einige als Chance, eine grenzüberschreitende Organisation von Amazon-Arbeiter*innen weiter voran zu bringen.
Ben Tarnoff, der selbst in der Tech-Branche arbeitet und regelmäßig über diese berichtet, schreibt in seinem Essay über die Geburt der Tech-Worker-Bewegung darüber, wie die Beschäftigten realisieren, dass ihre Interessen sich nicht mit jenen der Chefetagen decken. (1) Den Wendepunkt situiert Tarnoff bei der Wahl Donald Trumps im Jahr 2016. Denn obwohl Gründer*innen und Chefs der Tech-Industrie sich über Trumps Wahlsieg empört zeigten, ging es relativ schnell zur Tagesordnung über. Man machte sich wieder an das, was das primäre Ziel ist: Geld machen, auch wenn das auf Kosten der Ärmeren und Marginalisierten geht.
Vor diesem Hintergrund formierten sich erste interne Proteste gegen einzelne öffentliche Projekte, die Tech-Unternehmen angenommen hatten. Unter anderem für das Militär, das Google-Technologie gerne zur Weiterentwicklung von Drohnentechnologie benutzt hätte, oder Aufträge für die berüchtigte Zollbehörde ICE, die vor allem für ihre brutalen Abschiebungen bekannt geworden ist. Viele Unternehmen reagierten drastisch auf den internen Protest, feuerten Mitarbeiter*innen und schlossen bisher offene Kommunikationskanäle. Doch das heizte die Stimmung nur weiter an, die Arbeiter*innen begannen, sich außerhalb der Unternehmen zu organisieren.
Ein weiterer wichtiger Aspekt für die Geburt einer Tech-Arbeiterbewegung war die Anerkennung für Arbeitskämpfe der prekär Beschäftigten. Die Bewusststeinswerdung der Angestellten darüber, dass auch sie Arbeiter*innen sind, genauso wie die Reinigungskräfte oder Securities, ist ein Albtraum für die Führung, die alles daran setzt, eben diese gemeinsame Identität zu überspielen.
Kalifornische Ideologie
Der Versuch einer Theorie, mit deren Hilfe die Startup-Kultur verstanden werden kann, ist die kalifornische Ideologie. Den Begriff prägten die britischen Soziologen Richard Barbrook und Andy Cameron schon in den 1990ern. Die kalifornische Ideologie ist, wenn Hippie-Kultur beziehungsweise Anleihen aus den Subkulturen der 1960er und 1970er Jahre auf eine Tech-Industrie treffen, die die Produktion von Hardware in andere Länder verlagert hat. Wer geblieben ist, ist kein*e Arbeiter*in mehr, sondern Kreative*r, »Genie«, Entrepreneur. Auf den Campussen der großen Unternehmen gibt es tolle Kantinen mit Star-Chefköch*innen, Freizeitangeboten und Kinderbetreuung. Dass es mehr als Tech-Ingenieur*innen braucht, um diese Infrastruktur aufrecht zu erhalten, wird dabei oft vergessen. Die Tech-Industrie, so Tarnoff, verkörpert den neuen amerikanischen Traum und ist zum »Kronjuwelen des Amerikanischen Kapitalismus« geworden.
Befürworter*innen sprechen bei den digitalbasierten Jobs auch von »neuer Arbeit«, bei denen Flexibilisierung und ein gewisser Grad an Autonomie im Mittelpunkt stehen. Gekennzeichnet ist die kalifornische Ideologie auch von einem unerschütterlichen Glauben daran, dass es kein Problem gibt, das Technologie nicht lösen könnte. (2) Die Autorin und ehemalige Tech-Arbeiterin Wendy Liu, die in ihrem neuesten Buch die Abschaffung des Silicon Valley fordert, warnt davor, dass Tech-Unternehmen immer mehr öffentliche Aufgaben in den Privatsektor überführen könnten. (3) Tech-Unternehmen beliefern Schulen seit Jahren mit Materialien, virtuelle Banken spielen eine zunehmende Rolle, und für einige sind Transport-Apps unverzichtbar geworden.
In einem Interview mit Vice stellt Liu eine simple Frage, um über öffentliche Güter und Dienstleistungen nachzudenken: »Müssten diese Startups in einer Gesellschaft existieren, in der wir ein besseres Modell für die Verteilung von Dienstleistungen und Gütern an die Menschen hätten?« Diese Frage stellt sich auch in Corona-Krise, in der nicht zuletzt Startups aus der Gesundheits- und Pflegebranche ihren Moment kommen sehen.
Laut Tarnoff sind selbst unter den besser Bezahlten bis zur Hälfte der Arbeiter*innen gar nicht im Unternehmen angestellt, sondern über Zeitarbeitsfirmen. Die Bay Area an der Westküste der USA ist zu einem Beispiel für die schädlichen Folgen dieser Industrie geworden: Leute, die dort in der Security oder als Reinigungskräfte arbeiten, können nicht mehr ihren Lebensunterhalt bestreiten. Deshalb entstanden Initiativen wie Silicon Valley Rising, der sich Festangestellte, ausgelagerte Arbeiter*innen und »Hilfskräfte« wie Reinigungskräfte, Busfahrer*innen oder Securities angeschlossen haben. Sie arbeiten an einer neuen Erzählung: Alle Jobs sind Tech-Jobs. Diesen Ansatz wählte auch die 2014 in San Francisco gegründete Tech Workers Coalition (TWC). Die Basisorganisation dient als Vernetzungs- und Organisationsplattform für Tech-Angestellte und Selbstständige.
Hilfestellung bei der Gründung von Betriebsräten
Seit etwa einem Jahr gibt es auch in Berlin einen Zweig von TWC. Mitbegründet hat sie Yonatan Miller, der selbst Tech-Arbeiter ist. Ihm sei aufgefallen, dass die vielen nicht-deutschen Tech-Arbeiter*innen zwar politisch interessiert, aber kaum vernetzt seien, so Miller. Die Initiative gibt Hilfestellungen bei der Gründung von Betriebsräten, berät bei Fragen wie Mitarbeiterüberwachung oder unterstützt Individuen bei Aktionen innerhalb der Betriebe. Bei seiner Einschätzung über die Tech-Arbeiterbewegung ist er allerdings etwas vorsichtiger: »Der Begriff Tech-Worker ist umstritten. Einerseits fragen die Leute, die nicht Entwickler*innen sind, ob auch sie Tech-Worker sind. Entwickler*innen wiederum meinen oft, dass sie sich nicht als Arbeiter*innen sehen.«
Nicht nur die Unternehmen selbst könnten von der Krise profitieren – sondern auch die organisierten Tech-Arbeiter*innen. »Startups hatten eine reibungslosen Übergang zum Home Office, weil das schon davor möglich war«, sagt Miller. Die Social-Media-Plattform Twitter kündigte an, dass ihre Mitarbeiter*innen auch nach dem Lockdown von Zuhause arbeiten dürften. Dieser problemlose Übergang bedeutet, dass die Organizer wenig Zeit für die Anpassung an die neuen Umstände verloren haben. Miller hofft, nun auch vermehrt mit Leuten aus anderen Standorten in Kontakt zu kommen. Das könnte auch bedeuten, dass weitere TWC-Zweige außerhalb der großen Städte entstehen können.